Der schweigende Abschied von den traditionellen
Kirchen
Vortrag am 27. April 2004: Dr. Josef Frickel (Professor für patristische Theologie)
Auf der
Einladung zu unserem heutigen Thema von dem "schweigenden Abschied von den
traditionellen Kirchen" befindet sich eine gute
und eine weniger gute bzw. irreführende Einführung dieses Themas.
Die gute Einführung stammt aus dem Büchlein "Das neue
Kulturchristentum" von Anton Grabner-Haider, das 2002 in Münster
erschienen ist und lautet: "Alle religionssoziologischen Umfragen zeigen,
dass die meisten Zeitgenossen im weiteren Sinn religiös sein wollen, auch wenn
sie sich mit den Lehren der Kirche nur mehr zum Teil identifizieren können. Sie
befinden sich in einem dynamischen kulturellen Lernprozess. "Religion ja,
aber keine kirchlichen Monopole", lautet ein Bekenntnis.
Die etwas irreführende Einführung ist ein Zitat aus einem Artikel von Michael
Fleischhacker, der in der "Presse" am 24. Februar dieses Jahres
erschienen ist: "Ganz nach der alten Revoluzzer Devise "Jesus ja,
Kirche nein" werden das angestammte Christentum, aber auch asiatische
Religionen, schamanistische Überlieferungen jedweder Provenienz und
okkultistische Bewegungen auf brauchbare Bestandteile für das je eigene
Wohlfühlrezept untersucht. Was aus diesen Versatzstücken entsteht, ist dann
zwar keine Religion im herkömmlichen Sinn mehr, hat aber fraglos mit
"Spiritualität" zu tun.
Diese letzte Umschreibung des neuen "Megatrends Respiritualisierung"
ist für unser heutiges Thema insofern irreführend, als sie das subjektive
"Wohlgefühl" der Menschen zu sehr als religiöses
"Auswahlprinzip" für die eigene Religiosität betont. Zum Teil wahr
daran ist, dass heutzutage viele Menschen sich ihre
"Religion", die bisweilen sehr selektiv zustande gekommen ist, wird
daher gelegentlich auch als "Patchwork"-Religion oder als
"Selfmade"-Religion bezeichnet. Doch diese Charakterisierung trifft
nur auf einen bestimmten Teil der neuen Religiosität zu. Heute Abend geht es
jedoch um etwas anderes. Es geht um
1.) Eine neue Form von Christ-Sein.
Es wäre nämlich ein großes Missverständnis, würde man diese neue Form von
christlicher Religiosität für eine unverbindliche Beliebigkeit halten, welche
die Menschen von ernsthaften Forderungen und Verpflichtungen entbindet.
Gewiss hat es immer Menschen gegeben und gibt es auch heute, die sich von ihren
traditionellen christlichen Religionen in religiöse Lauheit oder gar
Gleichgültigkeit verabschiedet haben. Bei dem schweigenden Abschied von den
Kirchen, der das Thema unseres heutigen Abends ist, geht es jedoch ausdrücklich
um Christen, also um Menschen, die weiterhin im christlichen Sinn religiös sein
wollen, wenn auch in einer neuen Form. Die hier Gemeinten fühlen sich daher
auch weiterhin als Christen, und - was das Entscheidende ist - versuchen
ernsthaft, ihrer Überzeugung entsprechend auch als Christen zu leben.
Konkret: Diese Menschen wissen sich der Lehre Jesu Christi verpflichtet, wie
sie in der Bergpredigt eindrucksvoll zusammengefasst worden ist. Sie stellen
sich unter das zentrale Gebot des Jesus von Nazareth: "Du sollst den
Herrn, deinen Gott, lieben, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst" (Mk. 12,30ff). Für sie ist die "Goldenen Regel" Jesu
maßgebend: "Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so sollt auch ihr
ihnen ebenso tun" (Lk. 6,31).
Die Lehre Jesu Christi ist daher das Fundament ihrer religiösen Überzeugung und
ihres ethischen Handelns. Von daher ist es irreführend, ja falsch diese neue
Form von Christ-Sein als "Patchwork-Religion" zu bezeichnen oder von
"Versatzstücken" zu sprechen, die aus allen möglichen Überlieferungen
zusammengetragen und zusammengefügt würde.
Am ehesten könnte man diese neue Form von Christ-Sein ein Auswahlchristentum
nennen: "Darin wählen Christen nach eigener Überzeugung das aus den alten
christlichen Lehren und Moralregeln aus, was sich für sie mit kritischen
Bewusstsein und mit einer humanen Moral verträgt. Die alten Ansprüche auf
Glaubensmonopole und absolute Wahrheiten werden abgelehnt"
(Grabner-Haider): die kritische Auswahl findet also innerhalb der christlichen
Glaubenslehren und Moralvorschriften statt.
2.) Das Kulturchristentum
Innerhalb dieser eigenverantwortlichen Form von Christ-Sein kann man viele
unterschiedliche Neigungen und Interessen haben und pflegen. Viele Zeitgenossen
schätzen die Leistungen der christlichen Kultur hoch ein. Sie wollen diese
nicht missen; sie besuchen nach wie vor künstlerisch gestaltete Gottesdienste
und andere religiöse Veranstaltungen. Man kann daher auch von einem Kulturchristentum
sprechen, wie das Grabner-Haider explizit tut.
In den letzten fünf Jahrzehnten sind uns ferner andere Religionen und religiöse
Traditionen bekannt und sogar vertraut geworden: Islam, Judentum, Buddhismus
und andere. Man spricht von einem "Boom der asiatischen
Spiritualität". Es ist nur natürlich, dass sich aufgeschlossenen Christen
damit beschäftigen, den Dialog mit diesen Spiritualitäten suchen und sich auf
vielfältige Art davon inspirieren lassen. Wenn also "Christen" dies
oder jenes aus diesen fremden Religionen oder Kulturen für ihre eigene
Spiritualität übernehmen, so wird man das nicht als
"Patchwork-Religion" oder "Versatzstücke" abwerten, sondern
als Bereicherung der eigenen christlichen Traditionen verstehen.
3.) Negative Erfahrungen als Hilfe für geistige Unabhängigkeit.
Neben vielen positiven Aspekten einer kulturellen und religiös-spirituellen
Bereicherungen gibt es aber nicht wenige negative Erfahrungen, die zahlreiche
Christen veranlasst haben und veranlassen, sich von ihren traditionellen
Kirchen innerlich zu verabschieden. Hier gibt es eine große Bandbreite von
individuellen Erfahrungen und es lassen sich hier nur generell einige Punkte
anführen, welche die Autorität der Kirchenleitungen untergraben haben und
untergraben; wobei diese negativen Erfahrungen für nicht wenige Christen zum
Anlass wurden, um zu einer größeren geistigen und religiösen Unabhängigkeit zu
gelangen.
Da ist zunächst ganz allgemein unter Christen eine wachsende Skepsis gegenüber
den etablierten religiösen Institutionen, im besonderen
gegenüber den Autoritäten der Römisch-Katholischen Kirche. Die hierarchische
bzw. autoritäre Struktur der Kirche ist nach der Meinung vieler dem
demokratischen Denken und Fühlen nicht mehr verständlich.
Vielen ist inzwischen bekannt, dass der Zentralismus in der katholischen Kirche
seit dem 1. Vatikanischen Konzil (1870) stetig zugenommen hat. Im besonderen
Maße ist dies nach dem 2. Vatikanischen Konzil ab den sechziger Jahren des
letzten Jahrhunderts geschehen. Über die Autorität der regional
verantwortlichen Bischöfe läuft alle geistliche Gewalt in der Person des
Papstes in Rom zusammen, welcher mit der ihm untergeordneten römischen
Kurialregierung praktisch in allen Fragen des Glaubens, der Moral und der
Kirchendisziplin allein die letzte Entscheidung hat. Solch absolutistische
Vollmacht in einer Hand ist für nicht wenige Christen heutzutage nicht mehr
verständlich; sie fordern Mitspracherecht und Mitbestimmung. Umsonst. Der
Hinweis auf die Einsetzung des Petrusamtes durch Jesus Christus bringt alle
Einwände zum Verstummen.
So war das jedenfalls lange Zeit. Heute ist das anders geworden. Viele
Anordnungen des Papstes und seiner römischen Kurie werden von vielen
katholischen Christen zwar zur Kenntnis genommen, aber kritisch hinterfragt und
vielfach abgelehnt. Nur ein Beispiel: Eine der Entscheidungen des Papstes
betraf das Verbot der Priesterweihe von Frauen (1994). Dieses Verbot ist
endgültig: in der katholischen Kirche können nur Männer die Priesterweihe
empfangen. Frauen sind aufgrund ihres Geschlechtes vom priesterlichen Dienst
ausgeschlossen, aber viele kath. Christen sehen das anders. Ja, mehrere Frauen
aus Österreich, Deutschland und den USA haben sich inzwischen zu Priestern
weihen lassen, zwei sogar zu Bischöfen.
4.) Weittragende Entscheidungen auf dem Gebiet der Moral
Voriges Beispiel betraf den Bereich des Dogmas oder Glaubensbereich. Viel
weittragender und verhängnisvoller für die amtskirchliche Autorität waren
Entscheidungen Roms betreffend Moral und Sitte. Bekanntestes Beispiel ist die
Enzyklika "Humanae vitae", die Papst Paul VI. vor 36 Jahren (1968)
veröffentlicht hat. Sie enthält manch schöne Gedanken über die Ehe zwischen
Mann und Frau, erregte jedoch vor allem wegen Ihrer Lehre über die
Familienplanung und die Geburtenkontrolle weltweit Aufsehen und Kritik. Der
geschlechtliche Verkehr ist nur in der Ehe erlaubt und hat der Zeugung von
Kindern zu dienen, primär jedenfalls. Daher ist nach der Enzyklika jede Form
der künstlichen Verhütung von Kinder verboten und Sünde, gleichgültig ob dies
durch mechanische Mittel, durch Kondom oder Pille geschieht. Erlaubt ist nur,
den natürlichen Zyklus der unfruchtbaren Zeiten der Frau zu benützen.
Diese Enzyklika, bekannt auch unter dem Namen "Pillenenzyklika",
markiert weltweit einen Bruch im Denken von Millionen katholischer Christen.
Von nun an war das Thema Sexualität enttabuisiert. Die Lehrautorität des
Papstes wurde in vorher unbekanntem Ausmaß in Frage gestellt. Von vielen
Christen vielleicht zum ersten Mal. Denn: Millionen Christen waren und sind
überzeugt, dass diese Sexuallehre des Papstes nicht richtig war und nicht
richtig ist; einfach deshalb, weil sie in der Praxis, sich nicht erfolgreich
durchführen lässt. Nicht wenige waren und sind der Meinung, dass eine solche
Lehre nur im Kopf von zölibatären Männer entstehen
konnte.
Kritische Christen wiesen darauf hin, dass die Päpste in den letzten zwei
Jahrhunderten schon mehrfach Fehlentscheidungen getroffen hätten, z.B. in ihrer
hartnäckigen Ablehnung der Gewissens- und Religionsfreiheit, von Toleranz und
Demokratie überhaupt, oder in ihren Verlautbarungen zu den Ergebnissen der
modernen Bibelwissenschaft.
5.) Ein Beispiel aus der Kirchendisziplin
Heftige Kritik am kirchlichen Lehramt ruft auch die Praxis der Kirche hervor,
Christen, die nach dem Scheitern und der Scheidung ihrer Ehe wieder geheiratet
haben, vom Empfang der Kommunion auszuschließen. Dieser
"Kommunion-Ausschluss" bedeutet einen teilweisen Ausschluss von der
kirchlichen Gemeinschaft.
Diese Praxis der kath. Kirche hat viele Betroffenen veranlasst, ihrer Kirche
gegenüber sehr kritisch zu werden. Sie halten diese Praxis und die dahinter
stehende Sexualmoral für unchristlich, ja sogar für falsch. Zumal sie sehen,
dass die orthodoxen katholischen Kirchen die Eheaussagen Jesu Christi nicht so
restriktiv auslegen wie die kath. Kirche. Dort wird Christen nach dem Scheitern
einer ehelichen Beziehung erlaubt, eine neue Ehe einzugehen, und zwar mit dem
Segen ihrer Kirche, ähnlich wie das in den evangelischen und reformierten Kirchen
möglich ist.
In der Praxis führt das oft dazu, dass viele wiederverheiratete Christen den
Gottesdienst in einer anderen Kirche, wo man sie nicht kennt, besuchen und dort
die Kommunion empfangen. Sehr viele Betroffene fragen sich, ob sie eine Kirche
die sie derartig diskriminiert, finanziell noch unterstützen sollen. Viele
treten aus der Kirche aus. Aber auch wo das nicht geschieht: in jedem Fall
gehen diese Christen auf innere Distanz zu ihrer Kirche, zu deren Lehre und zu
deren Autorität.
6.) Eine Bewusstseinsveränderung
Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass sich im Laufe der letzten 30- 40
Jahren in weiten Kreisen der kath. Christen zunehmend eine
Bewusstseinsveränderung gegenüber ihrer Kirche bzw. gegenüber dem kirchlichen
Lehramt vollzogen hat. Wesentlich für diesen Bewusstseinswandel ist ohne Frage
auch der Umstand, dass in den letzten 20 Jahren auch Frauen in der kath.
Theologie akademisch lehren und forschen können. Wir sprechen bereits von einer
"feministischen Theologie", weil sich Fragestellungen und Blickwinkel
der Forschung dabei sehr verändert haben.
So hat z.B. der für die christliche Religion zentrale Gottesbegriff eine
Neuinterpretation erfahren. Wie das Judentum vor ihm und der Islam nach ihm hat
auch das Christentum ein rein männliches und patriachales Gottesbild. In diesem
Gottesbild drücken Männer ihre Dominanz über Frauen aus und legitimieren diese
durch die Religion. So ist der christliche Gott vor allem "Vater": er
ist Richter und Rächer, Kriegsgott und König; er ist zugleich "Sohn"
und "Heiliger Geist": Wobei beim "Hl. Geist zu beachten ist,
dass das ursprüngliche Wort für Geist im Hebräischen "Ruach" heißt
und weiblich ist; es wird im griechischen Word "Pneuma" sodann sächlich
und in der lateinischen Kirche als "Spiritus" schließlich männlich.
Erst die Feministische Theologie hat wieder bewusst gemacht, dass Gott nach dem
Schöpfungsbericht im 1. Kap. des Buches Genesis den Menschen nach seinem Bild,
und zwar "als Mann und Frau" geschaffen hat (Gen. 1, 27). Das ist
bildlich zu verstehen, meint aber, dass Gott als Ursprung alles Seins sowohl
männlich wie weibliche Züge in sich vereint. Die Korrektur dieses Gottesbildes
bedeutet das Ende der Dominanz von Männern über Frauen.
7.) Gott ist Schöpfer aller Menschen und Religionen.
Mit dem patriachalen Gottesbild endet auch der Anspruch der partriachalen
Religionen, die einzig wahre Religion zu sein und allein die ganze Offenbarung
Gottes zu besitzen. Dieses Bewusstsein, als Religion auserwählt zu sein, hat
Christen und Muslime zur Meinung gebracht, alle Menschen zu ihrer Religion
"bekehren zu müssen, bis zu dem: "Und bist du nicht willig, so brauch
ich Gewalt".
Der moderne Kulturchrist betrachtet daher den Monopolanspruch der
traditionellen Religionen als Überheblichkeit, mit der er nichts mehr zu tun
haben will. Er ist überzeugt, "dass es nur einen göttlichen Schöpfer für
alle Menschen und Kulturen gibt, der keine Menschen bevorzugt oder
benachteiligt" (Grabner-Haider, dem auch alle folgenden Zitate entnommen
sind). Alle Religionen sind für ihn Wege zu dem einen Gott, auch wenn ihm
evident ist "dass die Religionen und Kulturen auf unterschiedlichen Stufen
der Entwicklung (stehen)". die einen sind den Zielwerten einer allgemeinen
Humanität viel näher gekommen als andere." So können die Religionen durch
Kritik und Selbstkritik voneinander lernen.
Das bisherige Christentum hält am Anspruch der kulturellen und der religiösen
Überlegenheit fest. Es lehrt, Jesus Christus sei der einzige Erlöser der
Menschheit; in den andere Religionen fänden sich nur
Lichtspuren der göttlichen Wahrheit."
"Nicht wenige Kulturchristen verabschieden auch diesen Glauben der
Überlegenheit. "Denn auch in anderen Religionen und Kulturen wird eine
hohe Form der Menschlichkeit gelebt. Denken wir an den Buddhismus mit seinen
Grundwerten des allgemeinen Mitgefühls. Es gibt Wege der Erlösung vom Bösen,
die den christlichen Wegen ebenbürtig, wenn nicht überlegen sind."
8.) Eine ähnliche Hochschätzung wie für andere Kulturen hegen inzwischen
viele Christen auch für die Heiligen Bücher anderer Religionen.
Nach der Lehre der Katholischen Kirche, welche das letzte Konzil wiederholte, ist die christliche Bibel (AT und NT) "als ganze und in all ihren Teilen" göttliche Offenbarung. Doch dies ist für (viele) kritisch denkenden Zeitgenossen nicht mehr akzeptabel. Die Bibel ist, wie jedes historische Zeugnis, Ausdruck ihrer Zeit und Lebenswelt. Sie spiegelt die Kultur von Hirtennomaden, von niederen und höheren Ackerbauern, mit ihren Lebensregeln und Vorstellungen, mit ihren archaischen Rechtssystemen.
Dort gilt
das System der Rache (Gleiches für Gleiches)"; viele Vergehen müssen mit
dem Tod bestraft werden. Der "Einbruch in die patriachale Ehe ist schwer
zu bestrafen. Selbst das neue Testament fordert an vielen Stellen zu Hass und
Gewalt auf. Es weckt... den Hass gegen die Juden... Es wird zu Intoleranz gegen
Andersglaubende aufgerufen, es wird ein Glaubensmonopol beansprucht. Die
(gesamte) Bibel dokumentiert die Lebenswelt orientalischer Völker zwischen 1000
v. C. und 120 n. C.... Alle heiligen Bücher tabuisieren Lebensregeln einer
vergangenen Kulturstufe. (Diese) galten für diese, aber nicht (immer) für
spätere Zeiten. Dies ist das Problehnen aller heiligen Bücher der
Menschheit."
Darum liest "das Kulturchristentum die Bibel in allen ihren Teilen nur
mehr selektiv. Es werden diejenigen Texte und Aussagen ausgewählt, die mit dem
Zielgebot der Nächstenliebe und der allgemeinen Menschlichkeit Verträglich
sind. Alle Aussagen und Wertungen, die diesen Zielen widersprechen, werden
ausgeschieden... Diese Auswahl folgt dem kritischen Denken und den
Erkenntnissen der Humanwissenschaften. Die Bibel enthält viele Lebensweisheiten
und Zielgebote, die für das persönliche und das soziale Leben der Menschen sehr
wertvoll sind. Diese sollen weiter entfaltet werden. Doch ihre archaischen
Gotteslehren und Menschenbilder sollen endgültig verabschiedet werden:"
9.) Was für das heilige Buch der Bibel gilt, gilt ähnlich auch für die
"Dogmen" der Kirche.
Dogmen
sind "Lehrsätze, die den wahren Glauben normieren sollen. Konkret sind das
Lehren über die Gottheit, (über den Erlöser Jesus Christus), über das Leben der
Menschen, über die Ordnung der Welt." im Laufe von 2000 Jahren sind die
Dogmen der Kirche zu einem umfangreichen System von Lehrsätzen angewachsen, das
der normale Gläubige und auch zahlreiche Priester nicht mehr zu überblicken
vermögen.
Dieses Lehrsystem gibt den Gläubigen vor, was sie zu glauben haben; es dient
zugleich als Instrument, um jede von diesem System abweichende Meinung im Keim
zu ersticken und jeden Abweichler zu reglementieren und häufig auch seiner
Lehrtätigkeit zu entheben. Viele dieser (kirchlichen) Lehren spiegeln eine
archaische Weltdeutung und eine (zeitgebundene) Theologie wieder. Auch diese
können von vielen kritisch denkenden Christen heute nicht mehr akzeptiert
werden.
"Folglich werden im Kulturchristentum auch die bisherigen Dogmen des
Glaubens selektiv gelesen... (Von vielen) verabschiedet werden die Lehren von
einem strafenden, zürnenden und eifersüchtigen Gott; von der Überlegenheit der
Männer über die Frauen, von der sog. Erbsünde,.... Verabschiedet wird jede Form
von Leibfeindlichkeit, von Selbstabwertung, von Herrschaftsanspruch. Dazu
gehören auch die Lehren von Höllen und Teufeln", womit die Menschen Jahrhunderte
lang in Angst und Schrecken versetzt wurden.
Konkret bedeutet das: "Aus den bisherigen Dogmen wird das beibehalten, was
der Selbstfindung der Menschen dient, was ihr Selbstwertgefühl und emotionales
Gleichgewicht stärkt, was die sozialen Beziehungen verbessert. Das
entscheidende Kriterium ist auch hier die Ermöglichung des Zielgebotes der
Nächstenliebe und der (gesunden) Lebensentfaltung."
10.) Kurz: Die modernen Kulturchristen sind Männer und Frauen, die sich im
Vollsinn des Wortes als "Christen" verstehen, aber sich von einer
kirchlichen Autorität nicht mehr kritiklos sagen lassen, was sie zu glauben
haben und was nicht, was sie zu tun haben und was nicht.
Sie bemühen sich demnach um eine neue Form des Christ-Seins, dessen Ausprägung
allerdings sehr unterschiedlich sein kann. Diese Kulturchristen müssen nicht
mit ihren traditionellen Kirchen brechen. Manche haben das getan. Viele fühlen
sich jedoch ihrer Kirche nach wie vor verbunden, wenngleich oft nur noch sehr
locker. Manche nehmen an Gottesdiensten ihrer Kirchen oder anderer
Glaubensgemeinschaften teil. Viele zahlen weiterhin ihre Kirchensteuer oder
unterstützen karitative und kulturelle Initiativen kirchlicher Institute. Allen
gemeinsam aber ist, dass sie sich innerlich von ihren traditionellen Kirchen
verabschiedet haben.