Gnosis als Weg der Erkenntnis zur
Befreiung des Menschen
Vortrag am 29. April 2003: Dr. Josef Frickel
(Professor für patristische Theologie)
Das griechische Wort „Gnosis“
bedeutet „Erkenntnis“ ganz allgemein. Als geistige Strömung, die in der
Spätantike auftritt, genauer im 1. bis 3. Jahrhundert nach Christus, ist Gnosis
ein „Heilswissen“ zur Befreiung des Menschen vom Zwang des Schicksals und des menschlichen
Daseins.
Dabei geht es nicht eigentlich um den aus Leib und Seele bestehenden Menschen.
Vielmehr will Gnosis den inneren Menschen, also den geistigen Menschen befreien
(Iren. I 21,4). Denn der Mensch ist nicht nur „Geist“, der einen Körper hat,
wie viele auch heute meinen; sondern der Mensch ist nach Sicht der Gnosis
„Geist“, der in dieser Welt gleichsam in Verbannung ist, der durch seinen
Körper an die Erde gefesselt ist.
Dieser negativen Sicht des Menschen liegt eine Anthropologie zugrunde, die von
der orphischen und dann der pythagoreischen Religion stammt, die der
griechische Philosoph Platon übernommen hat und die in der Folge in weitere
Traditionen der alten Philosophie, besonders auch der Populärphilosophie
eingeflossen ist.
Aus dieser negativen Sicht des Menschen kann man deutlich erkennen, dass die
„Gnosis“ als Heilswissen ihren Ursprung weder im genuinen Judentum noch im
palästinensischen Urchristentum hat, wo der Mensch gut biblisch als ein
„Abbild“ Gottes verstanden wurde, gerade auch der Körper, der Leib des
Menschen, sondern unter Menschen entstanden sein muss, die von der platonisch
und pythagoreisch beeinflussten Populärphilosophie herkamen. Das hinderte
allerdings nicht daran, dass „Gnosis“ sehr bald in Teile des hellenistischen
Judentums und des hellenistisch geprägten Christentums eingedrungen ist.
1) Gnosis und das antike Weltbild
Es erhebt sich die Frage: Wie kommt der „Geist“ des Menschen bzw. wie kommt der
geistige Teil der menschlichen Seele in den Körper, in den Leib? Die Antworten
der Gnostiker sind im Einzelnen sehr verschieden. Zugrunde liegt jedoch immer
irgendwie die Vorstellung Platons, dass der Geist des Menschen eine
vorweltliche Existenz gehabt hat und bei der Entstehung oder Bildung des Leibes
auf irgendeine Weise in den Körper herabkam. Man spricht dann von einem „Fall
der geistigen Seele“.
Nach antiker Überzeugung gehört der Geist des Menschen nicht der sichtbaren
Welt an. Er ist ja unsichtbar! Seinem Wesen nach gehört der Geist also nicht
der irdischen, sondern der geistigen Welt an, also dem göttlichen Bereich. Dort
ist seine eigentliche Heimat. Daher ist der Geist auf irgendeine Weise aus der
geistigen Welt herausgefallen in diese materielle Welt, sei es schuldhaft oder
nicht. Anders also als in dem mythischen Bericht des Buches „Genesis“ der
hebräischen Bibel, wo Gott zuerst den Leib des Menschen aus Erde bildete und
dann diesen Leib durch seinen Odem belebte.
Die verschiedenen gnostischen Strömungen haben, wie gesagt, über diese
Einkörperung des Geistes verschiedene Erklärungen bereit. Allen aber liegt das
antike Weltbild zugrunde, wie es im 2. Jhdt. nach Chr. der in Alexandrien
lebende Astronom und Mathematiker Ptolemäus zusammengefasst hat: Das sog.
Ptolemäische System oder Weltbild, das bis auf Kopernikus (1473-1543) bzw.
Galileo Galilei (+ 1642) maßgebend blieb.
Das ptolemäische Weltbild ist geozentrisch. Es lehrt: die Erde ist der
Mittelpunkt der Welt und sie wird von der Sonne und dem Mond in kreisförmigen
Bahnen umlaufen. Zwischen Sonne und Mond die also beide selbst Planeten sind,
kreisen die anderen damals bekannten fünf Planeten (Merkur, Venus, Mars,
Jupiter und Saturn), alle ebenfalls um die Erde, in den sog. Planetensphären.
Diese Planetensphären sind nach antiker Vorstellung mit verschiedenen Geistwesen
erfüllt und belebt. Mehr noch: diese sieben Planeten, zusammen mit den zwölf
Tierkreiszeichen, sind für das Schicksal der Menschen bestimmend. Die Zahlen 7
und 12 sind daher von größter Bedeutung.
Nun zurück zum Fall der Seelen aus der geistigen Welt, die jenseits der
Planetensphären angesiedelt wird. Auf ihrem Fall abwärts müssen die Seelen alle
sieben Planetensphären durchqueren, und in jeder dieser Sphären wird jede
einzelne Seele zunehmend mit neuer Materie (und damit auch mit neuen Lastern) umhüllt,
bis sie schließlich im Leib gefangen, völlig in der Materie versinkt.
Das hat zur Folge - ganz nach der Lehre Platons - dass die Seele die Erinnerung
an ihre geistige Heimat und ihr göttliches Sein verliert. Die Seele oder der
Geist des Menschen befindet sich also in einem Zustand der Verlorenheit, aus
dem er sich nicht selbst befreien kann; er hat ja die Erinnerung verloren. Er
empfindet nur dunkel sein „Geworfensein“ in diese Welt (der Ausdruck stammt von
dem Philosophen Martin Heidegger), aber in seinem Inneren liegt eine tiefe
Sehnsucht, dem Chaos der Materie und damit seinem Untergang zu entrinnen.
Hier kommt nun die „Gnosis“ ins Spiel. Sie will dem Menschen seinen Zustand der
Verlorenheit zum Bewusstsein bringen und, in einem weiteren Schritt, dem
Menschen den Weg zu seiner Befreiung, zu seiner Erlösung von dieser Welt
zeigen, den Weg zum Aufstieg in die himmlische Heimat. Das also ist das Wesen
der Gnosis: die über Sein oder Nichtsein entscheidende Erkenntnis.
2) Der Erweckungsruf
Als erstes also muss der Mensch aus seinem Zustand geistiger Unwissenheit
erweckt werden, er muss aufwachen, sich seiner Situation bewusst werden. Der
Mensch soll sich nicht wie ein Tier mit seinem Schicksal zufrieden geben, oder
sich gar durch den trügerischen Genuss der irdischen Güter und Vergnügungen
noch mehr betäuben. Tatsächlich, diese „Erweckung“ gilt nicht nur in der
Gnosis; sie gilt auch in den christlichen Religionen und überhaupt in jeder
religiösen Bewegung, die den Menschen von einem primitiven Genussleben weg- und
zu einem geistigen, menschenwürdigen Leben hinführen will.
Daher ruft auch im christlichen NT der Verfasser des Epheserbriefes - ganz wie
in der Gnosis - seinen Lesern zu (Eph. 5,14):
„Wach auf, der du schläfst, und steht auf von den Toten. Und Christus wird dir
aufleuchten“. Das ist genau der „Erweckungsruf“, der erste Schritt zur Gnosis:
„Wach auf, du Schläfer!“
Und dann weiter: „Steh auf von den Toten!“ (anásta ek ton nekron) Hören wir
diesen Ruf genau! Er besagt nämlich explizit, dass der Mensch eine
„Auferstehung von den Toten“ nicht erst beim Jüngsten Tag, beim Weltgericht,
erwarten soll, sondern dass wir jetzt, hier und heute, von den Toten
“auferstehen“ sollen.
Gegen eine solche Auffassung von der Auferstehung wendet sich im gleichen NT
der Verfasser des 2. Timotheusbriefes, weil er darin eine Leugnung der
leiblichen Auferstehung zum Weltgericht sieht. Er wendet sich wie schon im 1.
Timotheusbrief (6,20f.) gegen Christen, die sich auf eine besondere
„Erkenntnis“ (Gnosis) beriefen. Namentlich nennt er zwei Männer (Hymenäos und
Philetos), „die in Betreff der Wahrheit auf Abwege geraten sind: Denn sie
behaupten, die „Auferstehung“ habe bereits stattgefunden“, und „sie bringen
dadurch manchen um seinen Glauben (2,14-18).
Tatsächlich: genau diese bildliche oder allegorische Deutung der „Auferstehung“
ist typisch für die verchristlichte Gnosis des 2. Jhdts., besonders für die
sog. Valentinianer, Schüler des bedeutenden Gnostikers Valentin aus
Alexandrien, der dann in Rom wirkte; ebenso wie für den Verfasser der sog.
Naassenerschrift, die uns der Kirchenschriftsteller Hippolyt von Rom (+235)
wörtlich überliefert hat (EI 5,8,22-24).
Dort heißt es in der gnostischen Auslegung eines synkretistischen heidnischen
Kultliedes zu Ehren des phrygischen Gottes Attis, dass der geistige oder innere
Mensch von den Phrygiern u.a. „ein Toter“ genannt wird, das bedeutet, dass „er
im Leib wie in einer Gruft und in einem Grab eingesargt (ist)“. Diese ganz
platonische Erklärung deutet der Gnostiker parallel auf ein Wort Jesu in den
Evangelien, wo Jesus im Disput zu den Schriftgelehrten und Pharisäern sagt:
„Ihr seid übertünchte Gräber, innen voll von Totengebein“ (Mt. 23,27). Und das
sagt Jesus, so erklärt der Gnostiker, „weil (in ihnen) der lebende Mensch nicht
ist“.
Nach diesem gnostischen Lehrer hat Jesus also die Auferstehung von den Toten
bereits für unser jetziges leben verstanden wissen wollen: die Pharisäer und
Schriftgelehrten sind „übertünchte Gräber“ bzw. innen „voll Totengebein“, eben
weil ihr innerer Mensch noch tot ist, nicht „lebend“ ist, nicht „auferstanden“
ist.
Und weiter wird in dem Attislied der innere Mensch auch „Gott“ genannt. „Er
wird nämlich Gott“, heißt es, „wenn er von den Toten auferstehend, durch das
Tor in den Himmel eingeht“. Auch hier wieder die Lehre, dass die Auferstehung
von den Toten jetzt, in diesem Leben, erfolgen soll. Wir ersehen aus diesem
kleinen Exkurs über die Auferstehung einmal, dass es die allegorische Deutung
der Lehre von der Auferstehung der Toten schon gegen Ende des 1. Jhdts. gegeben
hat, und zweitens, dass diese allegorische Deutung der Auferstehung ein
zentrales Axiom der verchristlichten Gnostiker geblieben ist.
3) Die innere Erleuchtung
Nach dem Ruf zum Aufwachen und dem Befehl, von den Toten aufzustehen, heißt es
im Epheserbrief (5,14) weiter: „Und Christus wird dir aufleuchten“. (Man kann
auch übersetzen: „Und Christus wir dir als Licht erstrahlen“. Die “Erleuchtung“
ist also das dritte Element, das wesentlich zur Gnosis gehört. Hier wird
deutlich, dass Gnosis nicht mit Philosophie oder rational logischem Wissen
gleichgesetzt werden kann. Es geht bei Gnosis nicht eigentlich darum, Wissen zu
vermitteln wie in einer Schule, Vielmehr soll der zu Belehrende selbst von
innen her ein-sehen. Daher ist die gnostische Erkenntnis nur eine und sie wird
in einem Akt erworben.
Zu Recht verweist Werner Foerster (Die Gnosis, Band1, Einleitung) in diesem
Zusammenhang auf den Gnostiker Simon (mit der Beinamen „der Magier“), der
sagt:
„Es ist wahr, dass in diesen Wissenschaften, die allgemein üblich sind, jeder,
der nicht gelernt hat, auch nicht Kenntnis hat; in Sachen der Gnosis aber hat
einer gelernt, sogleich wie er gehört hat“ (Ps.-Klent., Recogn. III 35,7).
Bei dieser Gnosis geht es also um eine innere Einsicht, eine plötzliche,
spontane Erkenntnis. Darüber sagt die heidnisch-gnostische Schrift „Poimandres“
(4) ähnlich: als der Offenbarer in seiner wahren Gestalt sich zeigte, „Und
sogleich wurde mir schlagartig alles klar.“
Nicht um großartige Wissenschaft geht es hier. Sondern hier gilt ein Jesuswort,
das wie ein erratischer Block im Evangelium des Matthäus und des Lukas
auftaucht und aus einer älteren Spruchsammlung von Jesusworten (= Q) stammt. Es
lautet:
„Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen
und Klugen verborgen und den Unmündigen geoffenbart hast“ (Mt. 11,25 u. Lk.
10,21).
Das Jesuswort sagt nicht, worauf sich diese Offenbarung von Gott bezieht. Was
ist es, das Gott den Unmündigen und Kleinen offenbart, den Weisen und Klugen
dieser Welt aber verborgen hat?
Die Evangelien geben darauf auf den ersten Blick eine scheinbar paradoxe
Antwort, die als eine Umkehrung unserer natürlichen Wertvorstellungen gelten
kann und uns daher zunächst unverständlich erscheint. Aber es ist so: wer in
das Himmelreich eintreten will, muss umdenken!
Die Botschaft lautet kurzgesagt so: „Jeder, der sich selbst erhöht, wird
erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden“ (Lk.
14,11). Oder: als die Jünger Jesu einmal darüber stritten, wer von ihnen im
kommenden Reich der Himmel der Größte sein werde, sagte Jesus zu ihnen:
Bei euch soll es nicht so sein, wie bei den Großen dieser Welt, wo sich die
Machthaber Wohltäter nennen lassen, „sondern der Größte unter euch werde wie der
Jüngste und der Oberste wie der Diener“ (Lk. 22,26).
Anders lautet die Botschaft der Gnosis? Ihr geht es darum, sich selbst, die
Welt (oder den Kosmos) und Gott zu erkennen. Diese drei Dinge sind die wahren
Erkenntnisobjekte der Gnosis: der Innere Mensch, der Kosmos, in dem der Mensch
verloren ist und Gott, zu dem der Mensch wieder zurückkehren soll. So heißt es
in der schon zitierten Naassenerschrift:
“Der Anfang der Vollkommenheit ist die Erkenntnis des Menschen, aber die
Erkenntnis Gottes ist höchste Vollkommenheit“ (5,8,38).
Nach Erweckung und Auferstehung des inneren Menschen beginnt die Erleuchtung
über den Weg zu seiner Befreiung von dieser Welt. Eine Befreiung, die
wesentlich eine Selbst-Erlösung ist.
Der Gnostiker braucht daher keinen eigentlichen „Erlöser“, einen Heiland, der
die Welt und die Menschen in ihr von ihren Sünden befreit. ,Selbst dort, wo die
Gnosis die Gestalt Jesu Christi einführt und die Worte Jesu anführt und deutet,
ist dieser nur „der Lehrer“, der den Heilsweg verkündet. Einen Erlöser im
traditionell christlichen Sinn, der die Menschen durch seinen Tod am Kreuz
erlöst, braucht die Gnosis nicht.
4) Der Gegensatz zwischen Gnosis und
Christentum
Hier zeigt sich der innere Gegensatz zwischen der Gnosis und der christlichen
Theologie, welche Jesus Christus als den gekreuzigten Erlöser verkündet, allen
voran der Apostel Paulus. Der schon zitierte Verfasser der Timotheusbriefe hat
diesen Gegensatz erkannt und daher die Heilsbotschaft der Gnosis radikal
abgelehnt.
Und diese feindselige Haltung der Gnosis gegenüber hat sich bei den
christlichen Lehren und Schriftstellern in den folgenden drei Jahrhunderten
fortgesetzt und noch verstärkt.
Die gnostischen Strömungen außerhalb und vor allem innerhalb des Christentums
werden als Irrlehren gebrandmarkt und polemisch verfolgt. Diese Polemik der
altchristlichen Schriftsteller muss man immer im Auge behalten, wenn man ihre
Nachrichten über die Gnosis der christlichen Gnostiker liest. Um so mehr, als
diese Informationen der antihäretischen Schriftsteller bis in die Neuzeit die
einzigen Nachrichten waren, die wir über die „Gnosis“ und die Gnostiker
besaßen.
5) Zu den neueren und neuesten Quellen
zur Gnosis
Erst nach der Mitte des 19. Jhdts. wurden erstmals gnostische Originalschriften
aus Ägypten in koptischer Sprache bekannt. Dazu kamen im vergangenen 20.
Jahrhundert manichäiche und mandäische Originaltexte, die im weiteren Sinne
ebenfalls zur Gnosis gehören.
Von allergrößter Bedeutung ist allerdings der 1945 durch Zufall entdeckte
Handschriftenfund von Nag Hammadi in Oberägypten. Dort wurden in einem Tonkrug
12 Codices mit insgesamt 53 Papyrushandschriften gefunden, nicht in Rollen,
sondern in Buchform gebunden. Alle diese Handschriften sind in koptischer
Sprache geschrieben, teilweise in verschiedenen Dialekten. Koptisch war die
Volkssprache des christlichen Ägypten, die heute völlig durch das Arabische
verdrängt und ausgestorben ist und nur noch als tote Sprache in der
christlichen Liturgie verwendet wird (die gebildete Schicht Ägyptens sprach
seit der Zeit der Ptolemäer griechisch).
Alle diese 53 neugefundenen koptischen Handschriften waren ursprünglich in
griechischer Sprache geschrieben und sind um die Mitte des vierten Jhdts.
n.Chr. in die koptische Volkssprache übersetzt worden, von mehreren
Übersetzern.
Dank dieser neuen Funde von gnostischen Originalschriften wissen wir heute,
dass „die Gnosis“ im Altertum eine weit umfassendere geistige Bewegung war, als
man früher angenommen hatte. Eine Bewegung, die wenigstens so alt ist, wie das
Christentum selbst, sehr wahrscheinlich sogar älter als dieses. Eine Bewegung,
die vor allem in Kleinasien erstmals greifbar wird, im nördlichen Palästina,
und hier besonders in Samaria, ca. 60-80 Km nördlich von Jerusalem.
Die Samaritaner (Luther nennt sie „Samariter“) waren ein Mischvolk aus
Israeliten und fremden Einwanderern, die um 400 vor Chr. eine eigene
Religionsgemeinschaft nach dem Vorbild der Juden bildeten, mit einem eigenen
Tempel auf dem Berg Garizim bei der Stadt Sichem. Sie betrachteten die ersten
fünf Bücher des AT, also die fünf Bücher Moses, den sog. Pentateuch, als
inspirierte Bücher, nicht jedoch die anderen Bücher des AT, auch nicht die
Propheten. Nach der Überzeugung der frühesten Kirchenväter hat die Gnosis in
Samarien ihren Ausgang genommen, {so Justin, Irenäus von Lyon, Tertullian,
Hippolyt von Rom, Epiphanios u.a.), und der große Handschriftenfund von Nag
Hammadi könnte diese Meinung sogar bestätigen, jedenfalls was die simonianische
und die sethianische Gnosis angeht.
Von Samarien aus dürfte die zunächst am Pentateuch und an griechischer
Populärphilosophie orientierte Gnosis sich nach Westen ausgebreitet haben, wo
sie bald verschiedene Ausprägungen gefunden hat, je nachdem sie in mehr
hellenistische oder mehr orientalische, in jüdische oder in christliche Kreise
eindrang. Man kann daher von einer mehr orientalischen oder hellenistischen,
bzw. von einer jüdischen oder christlichen Gnosis sprechen. Das Verhältnis zur
heidnischen Gnosis der Hermetik muss noch genauer untersucht werden.
All diesen verschiedenen Formen von “Gnosis“ ist gemeinsam, dass sie das
persönliche Heil des Menschen von seiner „Erkenntnis“ seiner selbst, der
Geheimnisse des Kosmos und der Geheimnisse Gottes abhängig machen.
Der neue Fund von Nag Hammadi hat unsere Kenntnis der Gnosis bedeutend
erweitert. Denn von den 53 Handschriften sind die große Mehrheit genuin
gnostische Texte, sodass man schon von der „gnostischen Bibliothek“ von Nag
Hammadi gesprochen hat. Es gibt jedoch auch nichtchristliche gnostische und
sogar heidnische Texte in dieser Bibliothek.
Innerhalb der genuin gnostischen Texte finden sich einige doppelt (das sog.
Ägypterevangelium und der Brief des „gesegneten Eugnostos“); eine Schrift, die
„Geheimschrift (oder das Apokryphon) des Johannes“ ist in den Handschriften
sogar dreimal vorhanden.
Dieses „Apokryphon des (Apostels) Johannes“ bildet mit einer Reihe anderer
Texte von Nag Hammadi eine eigene Gruppe einer verchristlichten Gnosis, die man
als „Sethianismus“ oder als „Sethianische Gnosis“ bezeichnet. Es ist eine
Spielart von Gnosis, die man vordem Handschriften-Fund so nicht erkennen konnte
(H.M. Schenke).
Man nennt diese Gnosis „sethianische“ nach der biblischen Figur des „Seth“ der
im 1. Buch der Bibel (Genesis) als der dritte Sohn von den Stammeltern Adam und
Eva aufscheint. Zur Erinnerung: die zwei ersten Söhne waren bekanntlich Kain
und Abel; Nachdem Kain seinen Bruder Abel ermordet hatte und von Gott verflucht
worden war, zeugten Adam und Eva den Seth, der Söhne und Töchter zeugte und laut
Bibel 912 Jahre alt wurde (Gen 5,8). Dieser Seth wird nun zum Träger
himmlischer Offenbarung gemacht und erscheint im Apokryphon in verschiedener
Gestalt und fungiert als Erlöser in dieser Gnosis.
Auf Grund des neuen Handschriftenfundes lassen sich nun in den spätantiken
gnostischen Strömungen mehrere Entwicklungslinien aufzeigen, die man (im
Gefolge von H.-M. Schenke) wie folgt benennen kann, wobei die 4. Gruppe von mir
eingefügt wurde:
(1) die sethianische Entwicklungslinie; Ursprung in Samarien;
{2) die simonianische Entwicklungslinie; Ursprung von Simon in Samarien;
(3) die mandäische Entwicklungslinie; Ursprung Palästina oder Samaria?
(4) die spätere philosophische Entwicklungslinie; simonianisches und auch
sethianisches Gut aufnehmend, kombiniert hellenistisch Philosophie und
christliche Offenbarung mit gnostischem Lebensgefühl (Basilides und Valentin
und deren Schüler).
6) Die Botschaft der Gnosis
Kehren wir zurück zur eigentlichen Botschaft der Gnosis: Erweckung,
Auferstehung und Erleuchtung über den Heilsweg.
Ein Beispiel gnostischer Erweckung bietet eine Offenbarungsschrift der sog.
Peraten (Hippolyt, El. 5,14,1), die so beginnt: „Ich bin die Stimme des
Erwachens in der Nacht“ (es folgen kosmische Offenbarungen) ;
Ähnlich eine Schrift der Simonianer, die in ihrer Substanz auf Simon selbst
zurückgeführt wird: „Dies ist das Buch der Offenbarung der Stimme und des
Namens aus der Erkenntnis der großen unendlichen Kraft“ (Hippolyt, El. 6,9,4).
Der Anfang (in einer älteren Fassung) und ein längeres Stück aus der gleichen
simonianischen Offenbarungsschrift wird auch in der synkretistischen Schrift
der Naassener zitiert, die mit den Simonianern offensichtlich den zentralen
dynamischen Gottesbegriff teilen: „Dies ist das Wort Gottes, welches ist ein
Wort der Verkündigung (Apophasis) der großen Kraft“ (Hippolyt, EI. 5,9,5).
Gnosis manifestiert sich hier als „Wort Gottes“ selbst. Hier spricht kein
Lehrer, auch nicht der Urheber einer Religion. Vielmehr stammt „Gnosis“
unmittelbar von der Gottheit selbst. Das kommt besonders stark in einem
Lehrbrief zum Ausdruck, den Valentin, der Begründer der vielleicht
bedeutendsten gnostischen Schule, geschrieben haben soll; er beginnt so: „Der
unzerstörbare Nus“ (also die erste Manifestation des Göttlichen selbst), dieser
Nus Gottes „grüßt die Unzerstörbaren“ (das sind die Gnostiker). „Ungenannte,
unsagbare, überhimmlische Geheimnisse tue ich euch kund, die weder Möchte noch
Gewalten noch Untergeordneten... zu ersinnen möglich ist...“ (Epiphanios, Pan
31,5,1-2).
Diese vier Beispiele des Anfangs einer Offenbarungsschrift können
veranschaulichen, mit welchem absoluten Wahrheitsanspruch die Häupter und
Lehrer der Gnosis aufgetreten sind. Für ihre Anhänger waren sie absolute, nicht
weiter hinterfragbare Autoritäten: sie waren das Sprachrohr der Gottheit
selbst. Ihnen gegenüber gab es nur unbedingte Gefolgschaft, völlige
Unterwerfung.
7) Die zwei bzw. drei Klassen von
Menschen
Es erhebt sich die Frage, ob alle Menschen auch fähig sind, diese göttliche
Stimme zu hören und ihr zu folgen. Erfahrungsgemäß sind ja nur relativ wenige
Menschen für geistige Fragen aufgeschlossen, während die große Masse sich im
Streben nach materiellem Erfolg zu verlieren scheint.
In dieser Frage können wir in den uns bekannten gnostischen Texten eine
interessante Entwicklung feststellen.
Die ältere Gnosis der Simonianer hat die gottfähige Seele, den göttlichen
Lebensfunken, jedem Menschen zugesprochen, obwohl sie natürlich sehr wohl
sahen, dass sehr viele Menschen sich nicht um ihre göttliche Berufung
kümmerten. Daher lehrt Simon in der durch ihn erfolgten „Großen Offenbarung
(der „Apophasis Megale“), dass das Göttliche - das er als “unbegrenzte Kraft“
versteht - in jedem Ding, gleichsam als dessen innerster Kern, verborgen
vorhanden sei, auch in den materiellen Dingen: in den Mineralien ebenso wie in
jeder Pflanze und in jedem Tier. In besonderer Weise ist dieses Göttliche, also
die göttliche Kraft, im Menschen vorhanden, weil sie sich im Menschen ihrer
selbst bewusst werden kann!
Aber, es kommt eben nicht in jedem Menschen zum Selbst-Bewusstsein! Warum?
Darauf antwortet Simon: Das Göttliche liegt in jedem Menschen nur als Anlage,
d.h. nur als Möglichkeit oder „Potenz“, also noch unentfaltet, noch nicht als
Wirklichkeit oder (philosophisch ausgedrückt) noch nicht als „Aktualität“. Aber
seine Bestimmung ist, entfaltet zu werden, d.h. Wirklichkeit zu werden! Es soll
also entfaltet werden. Die im Menschen ruhende göttliche Möglichkeit soll
Wirklichkeit werden! Geschieht das, erkennt der Mensch sich selbst und die in
ihm ruhenden Möglichkeiten. Dann wird der Mensch ungeahnte Kräfte in sich
entdecken, ja er wird in einem gewissen Sinn selbst zu Gott werden!
Simon drückt diesen Sachverhalt bildlich aus, wenn er sagt: Das Göttliche im
Menschen ist wie ein winzig kleiner Same, der aufbrechen und wachsen soll,
sodass aus diesem Samen schließlich ein ganz großer Baum werden soll, indem die
Vögel des Himmels ihre Nester bauen. Damit aber, sagt Simon, diese im Menschen
verborgen liegende göttliche Kraft sich tatsächlich entfaltet, dazu bedarf es
außer der Erweckung anschließend einer gebührenden Unterweisung, nämlich durch
die Gnosis. Dafür gibt er ein Beispiel aus dem alltäglichen Leben.
Es ist, sagt Simon, Wie mit der Anlage eines Menschen für Geometrie oder für
fremde Sprachen. Wird eine solche Anlage erkannt und richtige gefördert, sodass
sie zur Kunst wird, so wird eine solche Anlage ein Geschenk für diesen Menschen
und für viele andere werden. Geschieht diese Förderung aber nicht, bleibt die
in uns liegende Anlage also unentfaltet, so stirbt diese Veranlagung in uns mit
dem Tod des Menschen: sie geht zugrunde, so als wenn sie nie existiert hätte.
Ganz ähnlich, sagt Simon, ist es mit dem göttlichen Funken im Menschen: Wird
der Mensch sich seines Selbst bewusst, empfängt er dann auch die richtige
Belehrung und entfaltet er das Göttliche in sich, so wird er ungeahnte Kräfte
in sich freisetzen und gleichsam selbst zu Gott werden. Geschieht dies aber
nicht, dann bleibt die in ihm ruhende oder liegende göttliche Kraft
unentfaltet, also bloße Möglichkeit, und sie stirbt mit dem Tod des Menschen,
so als wenn sie nie existiert hätte.
Eine solche Lehre hört sich beim ersten Mal vielleicht seltsam an; beim
Nachdenken darüber wird man sehen, dass sie sehr tief ist. Therapien in der
Medizin und Psychologie beruhen auf dem Prinzip der Selbstheilung, indem die in
uns ruhenden Kräfte erkannt und freigesetzt werden. (Bedenken wir: dieses
Prinzip hat ein Gnostiker im ersten nachchristlichen Jahrhundert auf die im
Menschen verborgen liegenden Möglichkeit vergöttlicht zu werden, angewandt.)
Simon, von dem diese Lehre stammen soll, begegnet uns zum ersten Mal im NT, in
der Apostelgeschichte Kap. 8, wo er als „Magier“ (Zauberer) geschildert wird,
der mit magischen Kräften das ganze Volk in Samarien in Erstaunen setzte. Diese
Beschreibung versteht man gut auf dem Hintergrund der eben erklärten Lehre von
der in jedem Menschen als Möglichkeit liegenden göttlichen Kraft. Der
historische Kern der Nachricht über Simon dürfte der sein, dass es diesem Mann
gelungen ist, die in ihm liegenden Kräfte in hohem Maß zu aktivieren. Seine
Grundlehre, wonach das Göttliche „unendliche“ oder “unbegrenzte“ geistige Kraft
ist, die im geistigen Bereich verborgen ist, im physischen und sichtbaren Bereich
sich jedoch manifestiert, ist heute nicht weniger aktuell. Für die Menschen
gilt, dass in jedem die göttliche Kraft als Möglichkeit liegt: wer sie zu
entfalten weiß, wird gerettet, wer das nicht tun kann, geht zugrunde.
Nach einem anderen Gnostiker, Saturneilos aus Antiochien in Syrien, der etwas
später lebte und von Simon beeinflusst gewesen sei, werden die Menschen von
vornherein in zwei Arten eingeteilt: In gute und böse, je nachdem, ob sie den
göttlichen Lebensfunken erhalten haben oder nicht. Heil gibt es nur für die
Guten, d.h. für die, welche den göttlichen Lebensfunken in sich tragen und dem
Erlöser glauben, die also seiner Belehrung folgen. Nach der Lehre Saturneils stammen das Heiraten und Kinderzeugen vom Teufel, und die
meisten von ihnen enthalten sich animalischer Kost.
In dieser Zweiteilung der Menschen spiegelt sich ein zugrundeliegender
Dualismus deutlich wieder, der auch schon bei Simon vorlag. Es ist der
Gegensatz zwischen dem höchsten Gott und untergeordneten Engelmächten, welche
die Welt und dann den Menschen geschaffen haben, ohne jedoch die eigentliche
Gottheit zu kennen.
Dieser Dualismus zwischen Gottheit und Weltschöpfern ist kein absoluter, da die
Weltschöpfer selbst kein ewiges Dasein haben, sondern selber geschaffen wurden
- nicht jedoch von Gott, sondern von einem (göttlichen) Zwischenwesen.
Hier zeigt sich einerseits die schon bei Platon sich findende Scheidung
zwischen dem höchsten Gott und einem untergeordneten Weltschöpfer, dem
Demiurgen; andererseits aber tritt hier erstmals eine negative Weltsicht auf,
indem die Weltschöpfer als unwissend oder in anderen Fällen sogar als böse
aufgefasst werden.
Diese Meinung von unwissenden Demiurgen findet sich erstmals bei Simon, dann
bei dessen Nachfolgern, sowie bei Saturneilos und ebenso in der sethianischen
Gnosis, und ist charakteristisch für die gnostischen Systeme des zweiten
Jahrhunderts.
Indem diese dualistische Schöpfungslehre konsequent auf den Schöpfergott des AT
angewandt wird, wird der Judengott zu einem Engel degradiert, oft sogar zu
einem von sieben Schöpfungsengeln, welche gemeinsam die Welt und den Menschen
bilden. Ganz folgerichtig wird auch das Gesetz, das nach jüdischer Lehre Gott
am Berg Sinai dem Moses gegeben hat, nicht mehr auf die höchste Gottheit,
sondern auf untergeordnete Engel zurückgeführt, wodurch das Gesetz vielfach
seiner Verbindlichkeit beraubt wird. Deshalb fühlten sich viele von den
Gnostikern durch das Gesetz nicht mehr gebunden.
Bei Valentinos, einem gnostischen Lehrer, der um die Mitte des 2. Jhdts. nach
Rom kam, wird dieser Dualismus wieder abgemildert. Er teilt die Menschen in
drei Klassen ein: die Pneumatiker, die Psychiker und die Hyliker oder Sarkiker,
was man übersetzt als die pneumatischen Menschen, die den göttlichen Geist
besitzen, die seelischen oder natürlichen Menschen, die ein untergeordnetes
Heil erlangen können, und die irdischen oder fleischlichen Menschen, die mit
dem Tod endgültig zugrunde gehen.
Diese Einteilung der Menschen in drei Gruppen haben die Valentinianer von
Paulus übernommen, der besonders im 1. Korintherbrief mit diesen Bezeichnungen
das sittliche Verhalten der verschiedenen Menschen charakterisiert, ohne jedoch
den nicht pneumatischen Menschen die Möglichkeit der Bekehrung und damit des
Heils abzusprechen, wie das bei den Gnostikern geschah.
Die Valentinianer haben die Unterscheidung von drei Menschengruppen zu einer
eigenen Lehre ausgebaut. Je nach dem Geist, der sie beseelt, sind sie
Pneumatiker, Psychiker oder Sarkiker. Doch nur die Pneumatiker haben mit dem Pneuma
einen göttlichen Lebensfunken oder Samen in sich, der in dieser Welt geweckt
und erzogen werden muss.
Die Psychiker aber, die den Geist Gottes nicht fassen können, müssen (nach den
Valentinianern) in dieser Welt durch Befolgung der Gebote und durch einfachen
Glauben, nicht durch Erkenntnis oder Gnosis, geläutert werden. Da sie Gottes
Geist nicht haben, können sie auch nicht nach dem Tod in die geistige Welt
eintreten. Sie bleiben in einer Art Zwischenreich, in dem sie auf ihre Art
zufrieden und glücklich sein können. immer vorausgesetzt, dass sie
rechtschaffen gelebt haben. Haben sie das nicht, so werden sie mit dem Tod
zugrunde gehen.
Dieses traurige Los, dass nämlich mit dem Tod des Menschen tatsächlich alles
aus ist, ist auch den Hylikern oder Sarkikern beschieden, also den ganz und gar
irdisch gesinnten Menschen: sie gehen mit dem Tod zugrunde, so als ob sie nie
existiert hätten...
Man kann in dieser Dreiteilung des Menschen bei den Valentinianern das ältere
Schema der Simonianer noch gut erkennen, das nur zwei Arten von Menschen
kannte: die Gnostiker, die ihre göttliche Bestimmung erkennen und vergöttlicht
werden, und die Nicht-Gnostiker, die ihre Bestimmung nicht erkennen und daher
un-erleuchtet zugrunde gehen. Demgegenüber ist die valentiniansiche Dreiteilung
genauer, indem sie zugleich den stufenweisen Aufstieg der Seele besser
widerspiegelt, der für jeden Fortschritt im spirituellen Leben eines Menschen
wichtig ist. Denn der Mensch ist berufen, von einem zunächst fleischlichen
Lebewesen, das er bei seiner Geburt ist, zu einem seelischen, d.h.
vernunftbegabten Wesen zu werden; ein Vorgang, der nach Meinung der Alten um
das siebte Lebensjahr beginnen sollte, in dem neben dem physischen Wachstum
auch die intellektuelle Formation beginnen soll. Und er sollte dann weiter von
einem vernunftbegabten (oder seelischen) Menschen zu einem “geistigen“ Menschen
werden, in dem der „wahre“ Mensch erst zu einer Reife kommt.
Dieses Erziehungsideal ist daher ein Menschheitsideal und es ist zu beachten,
dass dazu die religiöse Formation absolut dazugehört. Denn der Mensch ist ein
„transzendentes“ Wesen, das aufgrund seiner Vernunft seine Verwiesenheit über
sich hinaus erkennen kann und soll. Ganz entsprechend lehrt daher auch die
christliche Mystik einen dreifachen Weg des Aufstiegs der Seele zum Göttlichen.
Zuerst den Weg der Reinigung, wobei man sich bemüht, das bewusste Fehlverhalten
(d.h. die Sünde) zu meiden. Dann den Weg der Erleuchtung, auf dem man lernt,
sich der inneren Führung Gottes anzuvertrauen; und drittens den Weg der
Einigung, wobei die innere Anwesenheit des Göttlichen dem Menschen immer
stärker bewusst wird (trotz mancher Dunkelheit), sodass er sein Leben in einer
immer größer werdenden geistigen Einheit mit dem Göttlichen lebst. In dieser
Phase wohnt das Göttliche durch seinen Geist tatsächlich in einem Menschen, der
deshalb auch ein „geisterfüllter“ Mensch, eben ein „Pneumatiker“ ist. Die von
Paulus stammende Dreiteilung der Menschen bleibt daher zeitlos aktuell.
Eine große Rolle für diese Erziehung oder Reifung des „Pneumatikers“ spielt bei
den Valentinianern die Ehe zwischen Mann und Frau, insofern diese sich
gegenseitig auf ihrem Weg zur Vollendung helfen sollen. Bei dieser in Ägypten
entstandenen Form philosophischer Gnosis ist die altägyptische Hochschätzung
von Ehe und Familie noch deutlich greifbar. Die Ehe ist nach ihnen das irdische
Abbild der Himmlischen Paarverbindungen (Syzygien), an denen der „Pneumatiker“
nach seinem Tod zusammen mit den Engeln im überhimmlischen „Pleroma“ teilhaben wird.
Im Unterschied zu den Valentinianern betonen andere gnostische Srömungen nicht
die Ehe, sondern des sexuelle Askese. So die schon genannte „Naassenerschrift“,
die freilich auch valentinianisches Gedankengut aufgenommen hat. Diese Schrift
ist, wie bereits erwähnt, ein gnostischer Kommentar zu einem synkretistischen
(heidnischen) Lied zu Ehren des phrygischen Gottes Attis. Der phrygische Kult
kam schon in vorchristlicher Zeit auch nach Rom. Sein zentraler Mythos erzählt,
wie die Göttermutter Kybele (in Rom als „Magna Mater“ verehrt) ihren Geliebten
Attis verstümmelt. Dies ist dem Gnostiker Symbol dafür, dass der Verkehr eines
Weibes mit einem Mann „etwas ganz Schlechtes und Verbotenes“ ist. Der Gnostiker
muss sich dieses Verkehrs enthalten und zu einem höheren Sein gelangen, „wo es
weder Weib noch Mann gibt, sondern eine neue Schöpfung, ein neuer Mensch, der
mannweiblich ist“ (El 5,7,13ff.). Und das Jesuswort aus dem Evangelium „Werft
nicht das Heilige den Hunden und die Perlen nicht den Schweinen vor“ (Mt. 7,6),
das bedeute, sagen sie, eines Weibes Umgang mit einem Mann sei der Schweine und
Hunde wert (El 5,8,33).
Alle moralischen Spielarten sind also in der verchristlichten Gnosis möglich,
sowohl Bejahung der Ehe als auch sexuelle Askese, wie auch in nicht wenigen
Fällen sexueller Libertinismus. Von letzterem zeichnet vor allem Irenäus von
Lyon und besonders Epiphanius von Salamis gegen Ende des 4. Jhdts. ein
drastisches Bild.
8) Zur gnostischen Kosmologie
Nach der Anthropologie nun einiges zur Kosmologie der spätantiken gnostischen
Systeme. Als Gegenpol zum Göttlichen ist der Kosmos notwendig Gegenstand der
Gnosis. Auch hier finden wir unterschiedliche Auffassungen. In jedem Fall
herrscht zwischen Gott und der Welt ein Dualismus, der in einigen Systemen,
z.B. bei den Sethianern, über die Hippolyt berichtet, ein absoluter zu sein
scheint, d.h. die Welt bzw. die Materie erscheint als ein gleichewiges Prinzip
neben Gott: als Finsternis gegenüber dem Licht, als Chaos gegenüber der
Ordnung.
So schon im altpersischen Zoroastrismus oder in der Orphik, später im
Manichäismus.
Bei der christlichen Gnosis des zweiten Jhdts. ist der Dualismus jedoch kein
absoluter oder ewiger, sondern ein relativer, d.h. das zweite Prinzip, sowohl
die Materie wie auch der Demiurg, entsteht nach dem ersten und wird irgendwo,
wenn auch sehr indirekt, aus dem göttlichen Urprinzip abgeleitet. Auch hier
bietet die lehre der Simanianer ein relativ einfaches Schema, das bei dem aus
Samarien stammenden christlichen Apologeten Justin kurz beschrieben wird.
Danach kam Simon, der ebenfalls aus Samaria stammte und ein Zeitgenosse der
Apostel war, später nach Rom, wo er ebenfalls Anhänger fand, die ihn wegen
seiner auch dort vollbrachten Wundertaten als Gott verehrten. Er soll eine Frau
namens Helena, die früher in einem Bordell gearbeitet hatte, als
Lebensgefährtin bei sich gehabt haben, die er als seinen „ersten Gedanken“
bezeichnete.
Justins Schrift „Gegen die Häresien“ ist zwar verloren gegangen. Seine kurze
Bemerkung in seiner etwas später verfassen „Apologie“ (Kap. 26), dass Simon als
Verkörperung der „göttlichen Kraft“ galt und seine Gefährtin als sein „erster
Gedanke“ (próte énnoia), zeigt aber, dass nach Simon die Welt einem
„gedanklichen Akt“ der Gottheit ihren Ursprung verdankt.
Nach dem etwas später verfassten Bericht des Kirchenvaters Irenäus wird Simons
Mythos bzw. Vorstellung von der Weltentstehung deutlicher greifbar. Besagte
Helena verkörperte demnach die erste Vorstellung des göttlichen Geistes (prima
mentis eius conceptio), und der Urgedanke Gottes enthielt (als völlige
Selbst-Erkenntnis Gottes) alle zukünftigen Dinge, ja alle überhaupt nur
denkbaren Dinge in sich, weshalb dieser Gedanke „Mutter aller Dinge“ (mater
omnium) genannt wurde. Nun: durch diesen seinen (allumfassenden) Gedanken
gedachte die Gottheit, im Anfang Engel und Erzengel zu erschaffen, d.h. die
himmlische Welt. Indem nun dieser Gedanke (énnoia) von Gott ausging und
erkannte, was der Vater wollte, stieg sie in die „unteren Regionen“ hinab und
gebar dort die Engel und Mächte, von denen dann diese Welt gemacht wurde.
Dann aber wurde die Ennoia aus Neid von ihren eigenen Kinder „unten
zurückgehalten“, da diese nicht für die Kinder von irgend
jemand gehalten werden wollten. Denn der höchste Gott und Vater der
Ennoia blieb den Engelmächten völlig unbekannt. Die Ennoia musste nun
jedmögliche Schmach erleiden und wurde sogar, als Seele, in einen menschlichen
Körper eingeschlossen, von wo aus sie (infolge der Seelenwanderung), wie von
einem Gefäß in das andere, in weitere weibliche Körper überging. Bei dieser
Seelenwanderung erlitt sie in jedem neuen Körper neue Schmach und kam zuletzt
in ein Dirnenhaus, aus dem sie Simon erlöste.
Dieses Gemisch aus Mythos und populärphilosophischer Spekulation hat sich, wie
der Vergleich mit verwandten, aber späteren kosmologischen Systemen zeigt, an
dem biblischen Schöpfungsbericht in den ersten Kapiteln des Buches „Genesis“
orientiert und versucht zu erklären, wie am Anfang „Himmel und Erde“ geschaffen
wurde (Gen 1,1 ff.). Dabei wurde die Schaffung der ersten Menschen bzw. der
Hervorgang der Frau aus dem Mann (Gen 2,21-22) in einen vorweltlichen Bereich
projiziert, nämlich in die Gottheit selbst, sodass dort Gott ursprünglich
allein existiert und dann erst sein erster Gedanke (Ennoia) aus ihm hervortritt
und die Gottheit in ihrer unendlichen Fülle erkennt. Daher ist dieser Gedanke
Gottes „Mutter aller Dinge“ (mater omnium), ähnlich wie dann ihr irdisches
Abbild Eva im Paradies die „Mutter aller Lebendigen“ (mater cunctorum
viventium: Gen. 3, 20) .
Zugleich ist in diesem Mythos die Ennoia nicht nur als der allumfassende
Gedanke Gottes verstanden, sondern auch als die Summe der göttlichen
Lebensfunken, welche die Engelmächte später bei der Schaffung des ersten
Menschen in dessen Leib als Seelen gefangen halten. Zu deren Befreiung ist die
Gottheit dann selbst herabgekommen, um ihnen durch die Erkenntnis (Gnosis)
ihres himmlischen Ursprungs das Heil zu bringen.
In dieser kurzen Skizze des simonianischen Mythos wird der Gnostiker über die
drei wesentlichen Bereiche, die Gegenstand der Gnosis sind, aufgeklärt: Über
die Gottheit, über die Welt und ihre Entstehung, und über den Menschen, der den
göttlichen Lebensfunken in sich trägt, der durch Selbsterkenntnis zu seiner
überhimmlischen Heimat zurückkehren soll.
9) Zum gnostischen Gottesbegriff
Über den hinter allem stehenden dynamischen Gottesbegriff Simons, der die
Gottheit als unermessliche, unbegrenzte Kraft definierte, erfahren wir mehr aus
der dem Simon selbst zugeschriebenen „Großen Offenbarung“ (Apophasis Megale),
aus der Hippolyt von Rom (+ 235) mehrere Fragmente überliefert hat. Danach ist
die göttliche Kraft „Feuer“; natürlich nicht irdisches Feuer, sondern in einem
geistigen Sinn, so wie es in der Bibel heißt, Gott sei ein „verzehrendes Feuer“
(Dt. 4,24 ). Das Feuer aber hat eine doppelte Natur,
eine „verborgene“ und eine „offenbare“. Das Verborgene sei in dem, was von dem
Feuer in Erscheinung tritt, verborgen, und das in Erscheinung tretende des
Feuers stamme aus dem Verborgenen. Dabei ist Gott als „unbegrenzte Kraft“ in
allen erscheinenden Dingen verborgen, so dass er in Wahrheit „die Wurzel des
Alls“ ist (El 6,9,5-6). Nach dieser pantheistischen Theologie ist Gott
vergleichbar mit einem riesigen Baum, der aus einem winzig kleinen Samen
hervorgegangen ist.
Gott war also gleichsam das Kleinste, was man sich nur denken kann; aber in
diesem winzigsten Samen liegt die ganze unendliche oder unbegrenzte Kraft
verborgen.
Diese Kosmologie zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit der modernen Evolutionstheorie.
Wobei ein Unterschied besonders darin liegt, dass bei Simon die Weltwerdung
nicht mit einem Urknall beginnt, sondern geräuschlos bzw. „in der Stille“ vor
sich geht, indem aus dem Urprinzip dessen eigener Gedanke „wortlos“
hervortritt, in dem Gott sich selbst gleichsam gegenübertritt und auf diese
Weise die unbegrenzte Wesenheit des Vaters erkennt, vorab dessen Wille: Nämlich
die Entfaltung und die Verwirklichung seiner selbst im Universum.
Das Eigenartige dieser Theologie und Kosmologie liegt in zwei Punkten. Einmal
handelt es sich um eine Kosmogonie (Weltzeugung), denn der erste Gedanke der
als mann-weiblich vorgestellten Gottheit ist weiblich, und die in ihm
enthaltene unbegrenzte Fülle des Urprinzips ist daher das Ergebnis einer
geistigen Befruchtung. Folgerichtig stieg die Ennoia in dem Mythos darauf in
untere Regionen hinab und gebar die Engel und Mächte, von denen dann die Welt
gemacht wurde. So wie der Mensch und alles Leben überhaupt aus der Verbindung
von männlichem und weiblichen Pol durch Zeugung entsteht, so entsteht auch die
Welt aus der Verbindung der „oben“ vorgestellten (männlichen) Urkraft und deren
„unten“ vorgestellten weiblichen Gedanken. Diese beiden Pole, die zunächst
ungetrennt „eins“ sind, treten als männlicher und weiblicher Pol auseinander,
um dann sich zu einem Paar (Syzygie) zu vereinigen. Die Frucht dieser
Vereinigung ist der geistige Kosmos, in dem sich die unbegrenzte Fülle der
Gottheit entfaltet. Als dessen Abbild werden (durch die Ennoia) zuerst die
Engel hervorgebracht, die sich dann ihre eigenen Planetensphären schaffen;
diese „himmlische“ Welt ist - ohne dass dies gesagt wird - ein Abbild der
„überhimmlischen“ Welt der eigentlichen Gottheit. Erst dann wird die irdische
Welt von den Engeln und in dieser der Mensch geschaffen.
Dass zur Schaffung der himmlischen und der irdischen Welt wie auch des Menschen
zuvor “die Materie“ hervorgebracht werden musste, wird in dem bei Irenäus nur
rudimentär überlieferten Mythos Simons nicht erwähnt, ist jedoch nach antikem
Weltbild selbstverständlich und daher notwendig vorausgesetzt. Dabei ist.
jedoch bedeutsam, dass die Materie bei den Simonianern kein gleichewiges
Prinzip neben Gott ist, wie das in der älteren griechischen Philosophie und
hier besonders bei Platon der Fall ist. Dies zeigen klar die oben erwähnten
Fragmente aus der „Großen Offenbarung“ Simons, die wir Hippolyt verdanken. Dort
wird Gott, wie schon gesagt, als „unbegrenzte Kraft“ von doppelter Natur
bestimmt, der verborgenen und der offenbaren oder sichtbaren. Die unsichtbare
göttliche Kraft aber ist in dem, was von dem göttlichen Feuer in Erscheinung
tritt, verborgen, weshalb Gott in absolutem Sinn „Die Wurzel des Alls“ ist.
Diese Definition Gottes wird noch deutlicher erklärt in einem Fragment aus
derselben Schrift Simons, das Hippolyt in seinem ausführlichen Bericht über die
„Naassener“ wörtlich zitiert. Die Gottheit offenbart sich hier als „die Große
Kraft“ (vgl. dazu Apg. 8,10), welche „Vater“, d.h. Ursprung aller Dinge
überhaupt ist: „von Äonen, Kräften und Gedanken, von Göttern, Engeln und
Geistern, von Seiendem und Nichtseiendem, Gewordenem und Gezeugtem...“ (El
5,9,5). Kurz: Die Gottheit ist „Vater“ (Ursprung) aller Dinge, des Geistigen
wie des Materiellen, ja von allem, was überhaupt nur gedacht werden kann (El
6,11). All dies, also und gerade auch die Materie, ist so in dem göttlichen
Urprinzip von Anfang an „potentiell“ vorhanden gewesen. Folglich muss auch in des Vaters erstem Gedanken (Ennoia), in dem Gott sich selbst
denkt, die Materie mitenthalten und miterkannt sein.
Es bleibt allerdings unklar, wie die Materie aus ihrer im Urprinzip
vorliegenden „Möglichkeit“ durch die Vermittlung der Ennoia zur „Wirklichkeit“
geworden ist. Da es sich jedoch um eine „Kosmogonie“ handelt, in der die Ennoia
die Engelmächte, die dann Weltschöpfer werden, aus sich „geboren“ hat, liegt
die Vermutung nahe, dass bei oder nach dieser „Geburt“ die Ennoia irgendwie
auch die Materie hervorgebracht hat. Ganz ähnliche Vorstellungen bei den mit
den Simonianern verwandten Sethianern und bei den Valentinianern können diese
Vermutung nur bestätigen.
Fest steht in jedem Fall, dass die Materie bei den Simonianern kein ewiges
Prinzip ist, sondern, wenn auch indirekt, auf Gott selbst zurückgeführt wird.
Und dies ist die zweite Eigenart der simonianischen Theologie und Kosmogonie:
es gibt keinen ursprünglichen oder absoluten Dualismus von Gott und Materie,
sondern die Materie ist, wenn auch indirekt, aus dem Göttlichen selbst
hervorgegangen.
Die hier kurz aufgezeigten zentralen und charakteristischen Eigenheiten der
simonianischen Gnosis, dass nämlich die Gottheit als Mannweiblich und als
absolut monotheistisch bestimmt wird, sodass selbst die Materie irgendwie von
Gott abgeleitet und ins Dasein gebracht wird, sind zum Verständnis der Gnosis
des zweiten nachchristlichen Jhdts. von größter Bedeutung. Ein Vergleich mit
den uns bekannten gnostischen Strömungen dieser Zeit zeigt nämlich, dass alle
in diesen zwei zentralen Punkten, die von der gängigen griechischen Philosophie
radikal abweichen, mit der simonianischen Gnosis übereinstimmen, auch wenn
diese verschiedenen Strömungen auf verschiedenste Weisen versuchen, die mit dem
Grundschema vorgegebenen Schwierigkeiten auf je verschiedene Weise
auszugleichen. Die von den christlichen Ketzerbekämpfern des 2. bis 4. Jhdts.
aufgestellte Behauptung, dass die verschiedensten gnostischen Strömungen direkt
oder indirekt auf die simonianische Gnosis zurückzuführen seien, wird dadurch
wieder aktuell und wird im Lichte der neuen gnostischen Schriften von Nag
Hammadi neu zu überprüfen sein.
10) Spekulationen über das Innenleben
der Gottheit
Nun noch kurz einiges zum geheimen Wissen der Gnostiker über die innere
Beschaffenheit der Gottheit, dargestellt nach der simonianischen Gnosis. Gott
erscheint dort zunächst als absolutes Prinzip, als einer und einziger. Aber da
er seinen eigenen Gedanken immer schon in sich trägt, ist
die Zweiheit und damit die kommende Entfaltung zur Vielheit, ja in die
Unendlichkeit, bereits vorprogrammiert, woran sich der Einfluss der
neupythagoreischen Philosophie bereits deutlich erkennen lässt.
Nach Simon (oder seinen frühen Nachfolgern) teilt sich die Urkraft oder
Urwurzel des Seins in sechs Sprösslinge oder Wurzeln, aus denen alles Werden
hervorgeht. Dazu kommt eine Siebente Kraft, die „unendliche“, die in den sechs
erstentstandenen Wurzeln enthalten ist und die eigentliche Verkörperung des
Urprinzips, „Der Wurzel des Alls“ ist.
Diese innergöttliche Entfaltung des Urprinzips in sechs bzw. sieben Kräfte ist
im Vergleich zu späteren gnostischen Spekulationen relativ einfach und könnte
eine Projektion der sieben Planetensphären des antiken Weltbildes in die
eigentliche Gottheit darstellen, also eine Projektion der „himmlischen“ Welt in
die „überhimmlische“. Doch ist die gnostische Paraphrase zu Simons „Großer
Offenbarung“, die Hippolyt (El 6,9-18) überliefert hat, in vielen Punkten
unklar und vielleicht auch unvollständig wiedergegeben. Soviel ist jedenfalls
deutlich:
Das Urprinzip selbst manifestiert sich zunächst in zwei und dann in vier
weiteren, also insgesamt in sechs Wurzeln, die als drei Wurzelpaare (Syzygien)
in Erscheinung treten; sie haben griechische Namen, die übersetzt lauten:
Verstand und Vorstellung, Stimme und Name, Urteil und Erwägung (El 6,13). Diese
Namen deuten auf Fähigkeiten und Tätigkeiten des menschlichen Verstandes und
Redens hin. Simon oder seine frühen Schüler haben demnach die geistigen
Funktionen des Menschen als „Abbild“ des göttlichen Wesens verstanden und daher
ähnliche Fähigkeiten und Tätigkeiten in Gott hineinprojiziert.
Diese innergöttlichen Funktionen haben im geschaffenen Kosmos sechs
Entsprechungen: Verstand-Vorstellung manifestieren sich als die mythischen
Grundelemente Himmel und Erde, die als männlich und weiblich aufeinander
hingeordnet sind, indem der Himmel die Erde befruchtet und die Erde die Früchte
(die Engelmächte und die Materie) gebiert.
Das Paar Stimme-Name manifestiert sich als Sonne und Mond, und das Paar
Urteil-Erwägung zeigt sich als Luft und Wasser. In diesen sechs Manifestationen
des Urprinzips ist folgerichtig die „Große Kraft“, die unendliche, selbst
enthalten, in diese gemischt und gemengt. Und man erkennt in diesen sechs
Manifestationen die klassischen vier Grundelemente (Feuer, Erde, Luft, Wasser),
aus denen die Welt entsteht, sowie die zwei formenden Kräfte Sonne und Mond
(das Warme und das Kalte), welche die vier Grundelemente gestalten.
Die Simonianer haben hier, wie Hippolyt richtig erkannt hat, die Lehren der
Neupythagoreer übernommen, welche die Sonne als großen Geometer und Rechner,
als Demiurg aller entstandenen Dinge definierten (El 6,28,1-2)
und zugleich die platonische Lehre von den himmlischen Ideen als Vorbilder der
irdischen Dinge adaptierten.
Mehr über diese Spekulationen im Inneren der Gottheit erfahren wir bei den
Valentinianern, deren Äonenlehren an die neupythagoreischen Gedankengänge der
Simonianer anschließen, diese jedoch vielfach erweitern, vor allem die Namen
der göttlichen Emanationen (Äonen) durch biblische Begriffe und Vorstellungen
ergänzen oder auswechseln (Hippolyt, El 6,29,16,36,4; ältere Lehren der
Valentinianer schon bei Irenäus).
Bei ihnen erfolgt die innere Entfaltung der Gottheit in mehreren Schritten,
(wobei das Urprinzip bei jüngeren Valentinianern als absolut transzendent von
den Äonen abgehoben wird). Zuerst erfolgt auch hier die Emanation von zwei
ersten Äonen, die sich als Paar zur pythagoreischen Vierheit vermehren, die nun
zur Achtheit sich verdoppelt. Aus zwei weiteren Zeugungen gehen sodann zehn
bzw. zwölf neue Äonen hervor, sodass die entfaltete überhimmlische Welt
insgesamt dreißig göttliche Kräfte oder Äonen in sich begreift, wofür Valentin
die biblische Bezeichnung „Pleroma“ (Fülle) übernommen hat (vgl. Kol. 2,9).
Diese dreißig Äonen sind alle mannweiblich, fünfzehn männliche und fünfzehn
weibliche, die jeweils eine Paargemeinschaft bilden. Von diesem Pleroma aus
beginnt dann die Entstehung der Welt ungefähr so (mit starken Abweichungen bei
den verschiedenen Valentinianern). Der letzte der dreißig Äonen, der weiblich
ist und Sophie (=Weisheit) heißt, will ohne ihren männlichen Paargenossen aus
Unwissenheit eine Zeugung hervorbringen, was natürlich nicht gelingen kann. So
wird sie aus dem Pleroma ausgestoßen und bringt dort nach ihrer Bekehrung einen
Sohn, Christus (den Gesalbten), hervor, der in das Pleroma eingeht. Sophia,
ihres geistigen Wesens entleert, bringt dann noch einen anderen Sohn hervor,
den Demiurgen oder Allbeherrscher der Welt; dieser bringt dann aus der
ebenfalls entstandenen Materie die himmlische Welt der Sphären mit den
dazugehörigen Engeln hervor. Schließlich schafft er die irdische oder sichtbare
Welt und darin zuletzt den Menschen, in dem der göttliche Lebensfunke auf
geheimnisvolle Weise gefangen wird. Dieser muss aus dem Leib befreit und aus
der materiellen Welt erlöst werden.
Diese hier sehr verkürzt angedeuteten Spekulationen
Valentins über die inneren Geheimnisse der Gottheit, das Entstehen des
Demiurgen und der materiellen Welt sind von den Schülern Valentins auf
vielfältige Weise abgewandelt worden. Irenäus von Lyon hat ihre theologischen
und kosmologischen Überlegungen als erster ausführlich in seinem großen Werk
„Gegen die Häresien“ behandelt und mit Erfolg zu widerlegen versucht. Neben
vielem anderen hat er klar erkannt, dass die innergöttlichen Unterscheidungen
der Valentinianer zwischen Gott als Verstand (Nus) und seinem eigenen Gedanken
(Ennoia), zwischen dem Wort (Logos) und dem leben (Zoe), im Grunde nichts
anderes sind als Projektionen von mentalen Vorgängen, die wir an unserem
eigenen Denken beobachten, die auf Gott übertragen werden, insofern der Mensch
vor allem geistig als „Bild Gottes“ verstanden wird. All diese in Gott
hineinprojizierten mentalen Unterscheidungen sind nur die Affekte oder
Regungen, die wir an uns selbst wahrnehmen können.
Beim Menschen, der ein zusammengesetztes Wesen ist (so argumentiert Irenäus)
kann man von seinem Verstand und seinem Bewusstsein als unterschiedlichen
Funktionen reden; ebenso auch, dass aus dem Verstand das Bewusstsein, aus dem
Bewusstsein die Überlegung, aus der Überlegung sodann das Wart (Logos)
hervorgeht. Nicht so bei Gott, der unser Denken übersteigt. Denn Gott ist
ungeteilt eins: er ist ganz Verstand und ganz Wort; er denkt was er spricht,
und er spricht, was er denkt. Denn sein Denken ist das Wort, und das Wort ist
sein Verstand, und der alles umfassende Verstand ist der Vater selbst. Folglich
dürfen die menschlichen mentalen Funktionen nicht in Gott hineinprojiziert
werden, dessen Wesen unergründlich ist (Adv. haer. II 28,5).
Die Gnostiker sahen die Dinge anders. Ihre Spekulationen, die Valentin und
seinen Schülern als „göttliche Offenbarungen“ erschienen, waren für sie
„geheimes“, d.h. „geoffenbartes Wissen“ über die Gottheit selbst, über den
Kosmos, über den Menschen als Geistwesen und dessen Rettung oder Erlösung oder
dieser Welt. Seinen irdischen Leib lässt der Gnostiker wie alle Menschen im Tod
hier unten zurück, wo er zerfällt. Die vom Körper befreite Seele aber steigt in
die die Erde umgebende Luftregion empor, um nun ihre Reise aufwärts durch die
Sphären der Planeten und deren Fürsten (Archenten) zu beginnen. Das kann sie
nur, wenn sie für jede Sphäre und deren Archonten das Schlüsselwort kennt, das
ihr den Zugang und den Durchgang dieser Sphären öffnet (Irenäus hat einige
dieser ihm bekannten „Parolen“ überliefert: Adv. haer. I 21,5). Dabei lassen
die „Seelen“ der Pneumatiker in jeder Planetensphäre die verschiedenen
Leidenschaften und Affekte zurück, die sie dereinst beim Herabsteigen durch
diese Sphären zur Geburt auf der Erde von den Planetengeistern erhalten hatten.
Sodann muss der Pneumatiker die oberhalb der Planetenregionen liegende Sphäre
des Demiurgen durchsteigen, wobei der Pneumatiker, welcher das göttliche Pneuma
in sich trägt, seine „Seele“, die „natürlich“ und nicht pneumatisch ist, dort
zurücklässt, d.h. in dem über den Planetensphären befindlichen „Paradies“. Der
pneumatische „Mensch“ aber geht über das Paradies hinaus in das überhimmlische
Reich des reinen Lichtes und des Lebens, um mit dem Sohn des guten Gottes und
dem vollkommenen und unendlichen Vater selbst im „Pleroma“ ewig glücklich zu
sein.
11) Abschließende Bemerkung
Nicht viele Menschen werden heute noch die Spekulationen und Vorstellungen der
Gnostiker teilen. Viele leben in Unwissenheit, Gleichgültigkeit, Skepsis. Aber:
der an das göttliche Leben und den göttlichen Geist in sich glaubt und auf
Gottes Fügung und Führung in seinem Leben vertraut, weiß auch heute, dass er
nicht „wie ein Bach in der Wüste versickern“ wird, sondern dass er nach dem Tod
„ein neues Ufer“ erreichen wird.
Für ihn gilt das Wort des Dichters:
„Ich werde nichts wollen, ich werde nur sein.
Ich werde mir, ich werde dir nahe sein wie nie zuvor.
Ich werde mich wie ein Wassertropfen mit dem Meer verbinden“ (Martin Gutl).