Alexej Klutschewsky
„Vorbedingung
für jede Konfliktlösung ist eine innertschetschenische Konsolidierung. Die
Gewalt und Unsicherheit, die durch Kriegsprofiteure auf beiden Seiten angeheizt
wird, verhindern bislang jeglichen Wiederaufbau und untergraben die
traditionellen Sozialstrukturen…Eine Konfliktlösung wäre nur dann möglich,
wenn es zu offenen und informellen Gesprächen ohne Vorbedingungen zwischen
traditionellen Ältesten, urbanen Tschetschenen, einflussreichen Einzelpersonen
und repräsentativen Vertretern der russischen Zivilgesellschaft kommen würde.“ Zu diesem
Resultat gelangte ein Soziologenteam der Universität Grosny, das für das vom
Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften unterstützten LATAUTONOMY-Projekt in weiten Teilen Tschetscheniens unterwegs
war. Solche Gespräche
ohne Vorbedingungen könnten auf die bewaffneten Konfliktparteien ausgedehnt
werden. Gespräche ohne Vorbedingungen sind notwendig, da die russische
Regierung nicht bereit ist, eine Unabhängigkeit auch nur zu diskutieren und
auch die gemäßigten Separatisten nicht bereit sind, die Forderung nach Unabhängigkeit
aufzugeben. Eine glaubwürdige internationale Vermittlung könnte hilfreich
sein. Es sei nur an die in Österreich stattgefundenen Schulungen von Tamilen
und Singhalesen für friedliche Konfliktlösungen im Friedenszentrum Schlaining
erinnert. Die Glaubwürdigkeit internationaler Vermittler ist sehr wichtig, denn
viele Ereignisse nach der Auflösung der UdSSR, zum Beispiel der Kosovokrieg,
verursachten ein tiefes Misstrauen bei einem Teil der russischen politischen und
militärischen Elite gegenüber dem „Westen“. Vielleicht käme dabei auch
die Lateinamerikanische Erfahrung des Diskurses und der Verhandlungen zugute? Die Soziologen erarbeiteten im
Sommer 2004 anhand der für die Autonomieprozesse in Lateinamerika
ausgearbeiteten Vorgaben (siehe Kasten über LATAUTONOMY) einen Fragebogen von
32 Fragen, die sie an 120 Personen in den Städten Grosny und Gudermes, sowie im
Rayon Nadteretschnyj und im Rayon Schatoj im Süden des Landes stellten. Den wichtigsten Grund für eine
fehlende Selbstregierung sah die überwiegende Mehrheit der Befragten in
kriegsbedingter Gesetzlosigkeit und Willkür. Eine Lösung der eigenen Probleme
sah eine Mehrheit von 59% durch den „unfreundlichen Einfluss einer außenstehenden
Partei“ (im Klartext der diversen russischen Geheimdienste) behindert, aber
33% erwarten sich „eine akzeptable Lösung durch Mitwirkung einer
respektierten dritten Seite“. Die beiden separatistischen Regierungen der Präsidenten
Dshochar Dudajew (1991 – 1996) und Aslan Maschadow (1997 -2000?) werden von
vielen Tschetschenen teilweise heftig kritisiert, weil unter ihnen das
innenpolitische Chaos zunahm, die Wirtschaft zerfiel und die Beziehungen zur
Regierung in Moskau nicht geregelt werden konnten . Deswegen verhielt sich auch
ein großer Teil der tschetschenischen Bevölkerung 1999 beim Einmarsch der
Russischen Armee abwartend. Den Umfragen
des soziologischen Zentrums der Tschetschenischen Universität zu Folge gäbe es
in Tschetschenien nur 20-24% entschiedene Befürworter der Unabhängigkeit.
Andererseits wäre eine Mehrheit der Bevölkerung bereit, einen Zustand zu
akzeptieren, der eine reale Autonomie und innere Selbstverwaltung der
traditionellen Dorfgemeinschaften garantiert. „Die russischen Behörden haben
bislang keine respektierte tschetschenische Verwaltung errichten können, da sie
in einer segmentierten Gesellschaft ein hierarchisches System nach
gesamtrussischen Muster aufbauen wollten und sich nur auf einen Teil der Klans
stützen konnten“, lautet die Analyse der ForscherInnen. Die
Wichtigkeit der traditionellen Gesellschaftssystem ist daraus zu ersehen, dass
sich 89% der Befragten eine aktivere Rolle der traditionellen Autoritäten (Klanältesten)
bei der Lösung des politischen Konflikts wünschen würden. Der Versuch, die
traditionellen Strukturen und die lokalen Selbstverwaltungen zu untergraben, war
ja gerade eine der Ursachen für den Konflikt mit sowjetischen Behörden in der
Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und die unterschwelligen Spannungen vor 1991, die
letztendlich zu diesem Krieg geführt haben, der bisher Zehntausende Opfer
gekostet hat. Weiters zeigt
die LATAUTONOMY-Umfrage sehr deutlich, dass der Konflikt keine tief greifenden
religiösen Ursachen hat: Islamisten („Wahhabiten”) wurden nur von 4
Personen (3,3% der Befragten) positiv bewertet. Islamisten sind für
Tschetschenen ein neues Phänomen, dessen Ausbreitung gemäß einem
Freund-Feind-Denken oftmals mit Aktivitäten der russischen Geheimdienste in
Verbindung gebracht wird. Hingegen wurde die immerhin staatsnahe Russische
Orthodoxe Kirche nur von 15 Personen (12,5%) und die konfliktfremden
Protestanten (Baptisten und Pfingstler) gar nur von 5,8% “negativ” bewertet.
Trotzdem sind
sich die Befragten ihrer tschetschenischen und moslemischen Identität durchaus
bewusst. So beantworteten die Frage: “Woran glauben Sie als Tschetschene”,
65% mit “an Allah, den Propheten Mohammed und seine Ustasen” (lokale
sufische religiöse Autoritäten). Weitere 25,8% der Befragten gaben an, an
Allah zu glauben, aber mit dem Zusatz, dass die tschetschenische Tradition und
das nordkaukasische Gewohnheitsrecht (Adat) für sie von gleicher Bedeutung wären.
Die Befragten bejahten auch die Bedeutung der säkularen Bildung, worin eine
Besonderheit des Islams in Russland besteht. (Die Umfrage zeigt weiters, dass die traditionellen Formen
des Landbesitzes, bestehend aus Gemeinschaftsland und privat
genutztem Land, von 50% der Befragten bejaht werden, 19% traten für
Staatseigentum von Grund und Boden ein und 31% bejahten alleiniges
Privateigentum. Subsistenzwirtschaft von Bergbauern in selbstverwalteten
Gemeinden bleibt die dominierende Wirtschaftsform der verbliebenen Landbevölkerung.
Aber auch vor dem Krieg geflüchtete Tschetschenen wissen genau, welches Land
ihren Familien gemäß dem Gewohnheitsrecht gehört. Hier läge ein zukünftiges
Konfliktpotential für ein Tschetschenien ohne substantielle Autonomie, denn die
russischen Behörden unterstützen ja auch in anderen Teilen der Föderation die
Privatisierung von Grund und Boden. Größter exporttauglicher Reichtum Tschetscheniens ist das
Erdöl. Überall in Tschetschenien wird sogar von Privatpersonen Erdöl gefördert
und Benzin raffiniert und in benachbarten russischen Regionen verkauft. Es gibt
lecke Pipelines und Förderanlagen, die mutwillig in Brand gesteckt werden.
Viele Böden sind verschmutzt. Ein beträchtlicher Teil des Erdöls wird
angeblich von russischen Militärs und tschetschenischen Feldkommandeuren
verkauft, was die Forscher zur Schlussfolgerung bringt, dass es gerade dieser
Reichtum ist, der den Krieg vorantreibt. Nicht zuletzt deshalb versuchte der am
9. Mai 2004 einem Attentat zum Opfer gefallene pro-russische tschetschenische Präsident
A. Kadyrow, die Förderung und den Verkauf des Erdöls zu kontrollieren.) Deshalb könnte
es nur dann zu einer Lösung des Konflikts kommen, wenn alle am Konflikt direkt
oder indirekt Beteiligten einen Verhandlungsprozess zuliessen, an dem die
traditionellen Klans („Tajp“) und Klanverbände („Tukhum“) ebenso
massgeblich beteiligt würden wie das in Afghanistan im Rahmen der Loya Jirga
der Fall war. Eine offene Versammlung aus traditionellen Ältesten,
Konfliktparteien und urbanen Gruppen könnte dann über das zukünftige Regierungssystem entscheiden. „Die Lösung
wäre eine multikulturelle Autonomie auf der Grundlage von allgemein
akzeptierten Formen einer inneren Selbstverwaltung unter Brücksichtigung des
traditionellen Gewohnheitsrechts und der allgemeinen Menschenrechte. Eine solche
innere Konsolidierung ist also die Grundvoraussetzung für die Beendigung des
Krieges und für die Klärung des Verhältnisses zu Russland“, lautet die
Schlussfolgerung des über 60 seitigen Forschungsberichts von LATAUTONOMY, der
soeben fertiggestellt wurde. |